Jedesmal wenn sich der Kleinbus mit den schwerkranken Kindern aus Afrika  der Innenstadt von Genf nähert, ziehen die Betreuer die Vorhänge zu. Die Schwerverletzten, ins Feuer gefallene, fast blinde, amputierte und Unglücklichen sollen sich auf keinen Fall der glitzernd mondänen Innenstadt ausliefern können, voll mit betörenden Fensterauslagen, blitzenden Lichterketten und den vielen schönen, sorgfältig gekleideten Menschen. Der verführerische Glanz unendlichen Reichtums darf keine Begehr wecken. Schon gar nicht die Lust, hier in der propersten Schweiz, im absoluten Gegenpol zu dem ärmlichen Daheim in der Wüste Afrikas zu bleiben.

Dabei leben die Kleinen für zwei Wochen auf einem Zauberberg. Die Kinderhilfsorganisation Terre des Hommes führt im Wallis ein Heim, „La Maison“, in dem pro Jahr zwischen 180 bis 200 Schwerstverletzte zumeist aus West-und Nordafrika auf  ihre Operationen vorbereitet werden. Oft sind ihre Gesichter kaum noch als menschliche Antlitze zu identifizieren, oft ihre Körper in ihren Gliedern reduziert, machen schwere Herzfehler sie extrem kurzatmig, sind ihre Körper verbrannt und ewig wund.

Es verbietet sich, die meisten Fotos dieser Kinder zu veröffentlichen. Deshalb muß die Vorstellung der fürchterlichsten Verkehrtheiten hier aushelfen, doch einige wenige Fotos geben einen winzigen Einblick in den Zauberberg.

Ein Paradies mit freundlichen, aufmerksamen Betreuern und Betreuerinnen, täglichem warmem Essen, frischem Wasser, sauberen Zimmern und Betten!  So viel Paradies auf einmal muß reichen. Aber kein Sturzbach, keine Alm, kein Genf, kein Kontakt zu Einheimischen soll den Kleinen signalisieren, dass sie hier eine neue Heimat finden könnten. Denn der Abschied vom Zauberberg, dem kleinen Paradies ist jedesmal für alle schwer genug.

Dabei liegt das Paradies der Kleinen doch ganz wo anders.

Ein Betreuer ruft den kleinen Marokkaner, der sich seit zwei Wochen wegen schwerster  Brandwunden im Gesicht hier aufhält, zu sich. „Du hast Post von zuhause!“ Das an sich ist ein Wunder. Die meisten Eltern können weder schreiben noch lesen, wollen sich keine Briefmarke leisten und haben in den allermeisten Fällen Wochen oder gar monatelang keinen Kontakt zu ihren Kindern weit weg in der Bergwelt  eines Landes von dem sie zuvor nie gehört hatten. Die Eltern des Kleinen haben Bekannte vor Ort gebeten, ihre Wünsche an ihn aufzuschreiben.

Neugierig öffnet er, der seit Tagen wegen seiner ewig tieftraurigen Augen im geschundenen Gesicht aufgefallen war, den Brief. Noch bevor der Betreuer das erste Wort vorlesen kann, reißt der Junge die Augen auf, beschenkt die Runde mit einem überwältigenden Strahlen:  Aus dem Brief rieselt Wüstensand. Der Junge versucht ihn überfroh aufzufangen.

Seine Augen leuchten heller als die schönste Lichtreklame Genfs: Heimat! Das ist das wahre Paradies.